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Annäherung an die Malerei von Harry Meyer

von Gode Krämer

Harry Meyer malt Landschaften, Köpfe und eine Thematik unter der Bezeichnung »Inkubator«. Was darunter zu verstehen ist, wird später zu ­erklären sein, außerdem ist dieser speziellen Thematik ein eigener Beitrag im Katalog gewidmet. Natürlich hat er anfänglich und sicher gelegentlich nebenher auch andere Sujets – Stilleben, ­ Interieurs – gemalt, doch bilden die drei genannten Themen sein Hauptinteresse.
Innerhalb dieser Themen gibt es deutliche Bedeutungsabstufungen in seinem Werk, die sich auch in dem vorliegenden Katalog zeigen: Etwa 50 der Landschaft gewidmeten Seiten stehen etwa 30 Seiten für die Köpfe und etwa 25 Seiten für den »Inkubator« gegenüber.

Die Landschaft ist also Harry Meyers Hauptthema, was auch die Bildformate verdeutlichen. Allein in diesem Sujet bewältigt er alle Formate: Vom monumentalen Landschaftsbild mit den Maßen 1.40 x 2.10 m bis zu den Kleinformaten von 20 x 18 cm bzw. 18 x 20 cm. In diesem ­Sujet fühlt er sich zu Experimenten sicher.

Zwar ist es bei Harry Meyers Verhältnis zur Realität verständlich, daß seine »Köpfe« im Gegensatz zu den Landschaftsbildern eine gewisse Bildgröße nicht überschreiten, doch die weitere Thematik »Inkubator«, gleichsam ein Ersatz für Historienbilder oder Interieurs, könnte den Landschaften vergleichbare monumentale Formate annehmen.
Bleiben wir zunächst bei den »Köpfen«: Die überwiegende Menge hat die Maße 40 x 30 cm, d. h. das traditionelle Format für einen Porträtkopf. Doch steigt das Format auch in dieser ­Thematik auf 50 x 50 cm, auf 70 x 70 cm, ja auf 95 x 70 cm, wobei bei dieser Größe statt des Kopfes allein schon ein Brustbild mit Schultern dargestellt ist. Es ist gleich, wie man eine solche Formatvergrößerung im Einklang mit einer vergrößerten Darstellung deutet: Fordert das grössere Format einen größeren Ausschnitt vom Menschen oder bleibt Harry Meyer – etwa – bei seiner Kopfgröße und fügt im Hinblick auf die verbleibende Leinwand unten einen Teil des Menschen hinzu? Aus dieser Überlegung heraus erscheint die Halbfigur oder Ganzfigur in entsprechender Formaterweiterung im Werk Harry Meyers wahrscheinlich und wäre überaus wünschenswert.

Es gibt noch einen weiteren gewichtigen Unterschied zwischen den genannten Themen, der der Landschaft im Werk Meyers – jedenfalls momentan noch – einen Vorrang gibt. Während der »Inkubator« als ein reines Phantasieprodukt erscheint, sind die Landschaftsbilder häufig – nicht immer – vor Ort entstanden. Sie sind, wenn sie auf der Rückseite der Leinwand oder hier im Katalog in der Beschriftung die auf den Monat genaue Datumsangabe tragen, in der Landschaft entstanden und behaupten so, ein Abbild der Natur, gesehen durch Harry Meyers Temperament, zu sein.
Die »Köpfe« stehen in ihrem Realitätsbezug zwischen beiden anderen Themen. Sicher ist, daß sie keineswegs im Sinne der Landschaften »vor Ort« entstanden sind, daß Harry Meyer also keinen bestimmten Kopf vor sich direkt wiedergibt. Sicher ist aber auch, daß die »Köpfe« jeweils im gleichen Realitäts- bzw. Abstraktionsgrad stehen wie die gleichzeitigen Landschaften; und weiter, daß die »Köpfe« mit der gleichen, wenn nicht gesteigerten Vehemenz gemalt und mit der gleichen Experimentierfreudigkeit weiterentwickelt sind wie die Landschaften. Es scheint, als habe sich aus dieser einfachen Thematik die des »Inkubators« entwickelt.
Aufschlußreich für die Deutung der »Köpfe« ist, daß Harry Meyer sie sowohl als einzelne Bilder, gleichsam in der Nachfolge des traditionellen Themas »Charakterköpfe«, ausstellt und anbietet wie in einem Tableau von 16 Köpfen dicht an dicht in vier Reihen zu je vier Köpfen. Grob interpretiert bedeutet das die Gleichsetzung des Individuums mit dem »Gesicht in der Menge«.
Soweit ein kurzer Überblick über das Werk. Nun der Versuch, ein wenig genauer einzudringen.

Landschaft

Es klang schon mehrfach an, daß der Realismus der Ausgangspunkt der Kunst von Harry Meyer war und ist. Wie ernst für ihn dieser Aspekt seiner Malerei und für seine Malerei ist, wird daran klar, daß er von Anfang an und immer noch mit seiner Ausrüstung in die Natur geht und in ihr die vor ihm ausgebreitete Landschaft direkt auf die Leinwand malt. Doch wird der Betrachter beim raschen, aber auch beim genaueren Anschauen der 69 abgebildeten Landschaften aus den Jahren 1991 – 2001 zunächst einmal folgendes feststellen: Unabhängig davon, ob die Landschaft in der Natur oder im Atelier gemalt wurde – auf Grund der auf den Monat genauen Datierung geben sich 39 als vor Ort, 30 als im Atelier gemalt zu erkennen –, wirken die Landschaften meist wenig vertraut; ja stärker noch, ungewohnt unruhig, farbstark, durchzogen von wilden schmaleren oder breiten Farbbahnen. Besonders auffallend ist, daß gerade das, was die Landschaft besonders ausmacht, in den Bildern meist fehlt: die Tiefe. Ganz selten gibt es in den Bildern Perspektivlinien oder eine horizontale Schichtenfolge, die die Landschaft nach hinten öffnen. Ich nenne einige Beispiele: »Brücke«, ­Pilsach, Juni 1993 (S. 9), »Tal«, Schmidmühlen, Mai 1994 (S. 15), »Felsenkeller«, Kleinalfalterbach, April 1992 (S. 21), »Hügel«, Hannober, 6. Juni 2000 (S. 47), »Berge«, Sonogno, 2000/01 (S. 35). Und ganz selten gibt es Bilder, die einen gewissermaßen »gewohnten« Landschaftsausschnitt zeigen, wie die »Hügel« in Tannberg vom 3. Juni 2000 (S. 43), in Hörbolz vom 30. Juli 1999 (S. 45), und in Geiselharz vom 4. Juni 2000 (S. 45). Es fällt auf, daß die überwiegende Zahl der genannten Beispiele ­Bilder sind, die in der Landschaft gemalt wurden.
Dagegen zeigen gerade die genannten »Hügel«-Landschaften aus den beiden letzten Jahren, daß keineswegs nur in den frühen Bildern in Meyers Werk ein größerer Bezug zur Gegenständlichkeit herrscht. Das ist nur zum Teil richtig; zwar griff er in seinen frühen Bemühungen, die Landschaft in ihrer Weite und Vielschichtigkeit auf das kleine Format der Leinwand zu bringen, mitunter auf die bewährte Perspektive zurück, wie z. B. in der genannten »Brücke«, Pilsach, vom Juni 1993 (S. 9) oder dem »Felsenkeller« vom April 1992 (S. 21), doch geht er auch heute noch mitunter den gleichen Weg, um sich in der Landschaft zu orientieren, wie die »Hügel«-Landschaften zeigen.
Doch ergaben sich in der Natur Situationen, die dieses perspektivische Sehen ganz oder weitgehend aufhoben, und Harry Meyers Malerei ganz neue Dimensionen hinzufügten. Was ich meine, läßt sich im Katalog an den beiden im Mai 1994 vor Ort gemalten Bildern »Tal«, Schmidmühlen (S. 15, 16), gut dokumentieren: Während er malte, fing es an zu regnen, und während es regnete, malte er weiter und im Regen verschmolzen Landschaft, Licht, Regen und Farbe, so daß eine wesentlich abstrakter wirkende Ansicht der Landschaft entstand, als die vorher oder nachher ohne Regen gemalte. Denn die Horizontlinien beider ­Bilder zeigen deutlich, daß es sich um den gleichen Ausblick handelt.
Dazu ist ein kleiner technischer Exkurs notwendig: Harry Meyer malt mit Ölfarben, an denen, sobald der auf der Leinwand liegende Kreidegrund überdeckt ist, der Regen abperlt, wenn er nicht zu heftig wird.
Diese Darstellung der Natur im Regen, mit der Harry Meyer schon vor 1994 begann, hatte für seine Malerei weitgehende Folgen. Sie führte zu einer neuen Thematik innerhalb der Land­schafts­malerei, der Folge von Regenbildern, die zweifellos zu den ungewöhnlichsten und hintergründigsten Schöpfungen der neuen deutschen Malerei zählt. Im Katalog sind 14 zwischen 1993 und 2001 gemalte Bilder abgebildet, dazu das Bild »Land Energie« als Titelbild. Gerade daran wird das Irritierende, Neue dieser Regenbilder klar: Der Regen ist nicht dargestellt, wie wir ihn zu kennen meinen: Weich, durchsichtig, farblos; vielmehr materialisiert er sich vor unseren Augen zu breiten, das Bild vertikal durchschneidenden Farbbahnen. In den frühen Bildern, z. B. ­»Regen«, Kadenzhofen, Oktober 1993 (S. 27) oder »Regen«, Winbuch, 9. Februar 1995 (S. 49), durchfahren sie das Bild – dicht oder weniger dicht – noch so, daß die Landschaft hindurchschimmert, erahnbar bleibt, später werden die Regenbahnen, die aus einer über der Landschaft schwebenden Wolke herabstürzen, das eigentliche Bildthema.

Mit diesen Bildern zieht eine neue Dimension in die Landschaftsmalerei ein: Denn Harry Meyer hat in den frühen Bildern im Oktober 1993 in Kadenzhofen nicht allein gelernt, den Regen ganz materiell sichtbar zu machen, sondern auch Sonne und Sturm. Er fängt sie wie den ­Regen in breiten starkfarbigen Pinselschwüngen im Bild ein, und sie bilden seitdem einen festen Bestandteil in seinen Bildern. Er faßt diese Thematik unter Titeln wie »Land Energie«, »Berg Energie«, »Land Licht« zusammen und bezeichnet damit Bilder, die in der Tat von einer so ­ungeheuren Dynamik sind, daß die Landschaft oder gar ein konkreter Landschaftsausschnitt – auch wenn er sie dem Titel hinzufügt – nicht mehr erkennbar werden. In diesen Bildern malt Harry Meyer die explosiven Kräfte der Natur mitunter in aller Schönheit als Wolkenformationen, mitunter als bedrohende Erscheinung direkt, unmittelbar, rauschhaft, so daß zum Teil abstrakt wirkende, der informellen Malerei verwandte Werke entstehen.
Die Eigendynamik dieser Thematik und die ­malerische Neugier Harry Meyers treibt ihn noch weiter über die reine Landschaftsmalerei hinaus; denn die Durchdringung der Regen- mit den Energiebildern führt zu einer Darstellung der Regen, Licht und Farbe tragenden Wolke, die auf langen Stelzenbeinen über die Erde schreitet oder unheilsschwanger über der Landschaft schwebt. Diese Bilder als »Landschaften« zu ­bezeichnen, fällt schwer, obwohl Harry Meyer die für diese Gattung typische Horizontlinie, die Himmel und Erde trennt, nahezu nie aufgibt, doch müßte die konkrete Bezeichnung »Natur« oder »Naturen« sein, gleichsam die Abbildung einer Natur unabhängig vom Menschen, vor dessen Erscheinen bestehend und nach dessen Ende. Natur als Ausdruck der Elemente und Elementarkräfte. Neben diesen Naturbildern entstehen weiterhin teils vor Ort gemalte, teils im Atelier beendete gleichsam »konventionelle« Landschaften, wie es am Anfang beschrieben wurde. Das ist wichtig zu betonen, weil sich darin Harry Meyers beständige Rückkehr zu seinem Ausgangspunkt, der, gegenständlich gesehen, Landschaft ausdrückt. Allerdings zeigt sich in vielen Landschaften mit sehr konkreten Benennungen, wie z. B. die »Streuobstwiesen« von 2000 (S. 23), eine dem Gegenstand kaum noch angemessene gesteigerte Dynamik in der Malweise. Die Obstbäume auf den genannten Bildern, wie die vielen auf sehr kleinen Formaten gemalten einzelnen Bäume, scheinen vor Vitalität zu explodieren, wobei die äußerst dick aufgetragenen Farben ihre natürliche Rundform als konvexe Form nach vorne fortsetzen.

KJopf

Nun zu den Köpfen, in denen sich eine ähnliche Entwicklung und auch eine vergleichbare Ausweitung der Thematik vollzieht wie in den Landschaften. Harry Meyers Annäherung an das ­The­ma Kopf entspricht dem, was er im Hinblick auf seine Landschaften in einem Text bei der Überreichung des Helen – Abbott – Förderpreises 2001 vortrug: »Die meinen Bildern zugrundegelegte Intention ist jedoch nicht die Imitation einer erschauten Wirklichkeit, sondern die konsequente Wegführung von dort zu einer ­Akzentuierung des rein Wesentlichen, zu einer Sichtbarmachung naturhafter energetischer ­Prozesse, letztendlich zu einer Sichtbarmachung der Idee des Lebens selbst.«
Die »Sichtbarmachung naturhaft energetischer Prozesse« scheint mir auch das Ziel bei der ­Darstellung des Kopfes oder eines Kopfes. Die Kräfte der Seele – Verkrampfungen, Schmerzen, Schwächen, ebenso wie die Stärken, Stolz, Sicherheit, Überheblichkeit – drängen in Harry Meyers »Köpfen« von innen nach außen, werden sichtbar gemacht in zwei Schichten: Die noch erkennbare Außenhaut des Gesichts und die sie überlagernden seelischen Triebkräfte. Diese letzteren, Wunden, Ängste, Wünsche, Hoffnungen, Triumphe, Haß, Liebe mit all ihren Zwischenstufen, die wir Menschen natürlich mit allen Kräften vor unseren Mitmenschen zu verbergen trachten, die man aber doch mit dem bekannten Ausdruck »zeigt sein wahres Gesicht« sehr wohl zu erkennen glaubt, drücken sich in Harry Meyers Köpfen aus. Es gibt in der Kunstgeschichte einen absoluten Gegenpol zu seinen Köpfen: Die manieristischen Porträts des 16. Jahrhunderts etwa von Jacopo Pontormo oder Hans Holbein d. J. Die von ihnen mit feinstem Pinsel in glatter Malerei Porträtierten zeigen außer ihrem Gesicht nichts. Sie offenbaren nichts an Gefühlen, nichts von ihrem Charakter. Sie verbergen alles hinter der Fassade ihrer Gesichter. Harry Meyer scheint das zweite Gesicht des Menschen in seinen »Köpfen« offenzulegen, wobei zwischen den frühen Bildern des Themas und den späten durchaus eine Entwicklung zu erkennen ist. In den in den frühen 90er Jahren entstandenen Köpfen ist der Gegenstand »Kopf« nicht nur in der Form an sich deutlich, wie in den späteren auch, vielmehr erkennt man auch viel genauer die Einzelteile des Gesichts: Augen, Nase, Ohren, Mund, Kinn.

Im Laufe der Jahre, wie die Reihe von Köpfen von 1992, 1995, 1998, 2000 und 2001 (S. 64­65) oder die beiden Tableaus mit den je 16 Köpfen der Jahre 1993 und 1998/99 (S. 75, 76) zeigen, gehen die Einzelformen immer stärker im Gesamtausdruck unter.
Konnte man in den frühen Bildern entschieden mehr das Gesicht erkennen und war versucht, in diesen Gesichtern zu lesen, ihren Ausdruck zu deuten, diesen für fröhlich zu halten, jenen für schmerzhaft verzerrt, in einem etwas Herrisches, Böses, in anderen pure Betroffenheit zu sehen, so entziehen sich die neuen Köpfe seit etwa 1995–98 immer stärker einer beurteilenden Betrachtung. Stellt man sich vor den frühen Köpfen noch die Frage nach dem Geschlecht der Dargestellten und sieht unter vielen männlichen Köpfen mitunter auch den einer Frau, oder macht man sich Gedanken über das Alter der Dargestellten, so verstummen solche Fragen vor den neueren »Köpfen« absolut.
Wir haben hier, sagt man – könnte man sagen – nur in zweiter Linie einen Kopf oder ein Gesicht vor uns, in erster Linie ist es ein Kunstwerk, das eher auf Form und Farbe zu befragen ist als auf den Inhalt. Das ist sicher richtig, und doch enthebt es den Betrachter nicht der Pflicht, auch den Inhalt zu untersuchen. Schließlich wurde auch versucht, die Weiterentwicklung der Landschaft zu den Naturbildern zu erklären und zu deuten. Die Schwierigkeit des Betrachters mit den Köpfen im Gegensatz zu den Landschafts-/Naturbildern liegt darin, daß der Betrachter die Natur, die der Maler darstellt, kennt, vielleicht nicht im Detail, aber in seiner Vorstellung und in ihrer Wirkung. Die Personen aber, die Harry Meyer in den Köpfen darstellt, kennt er nicht; ja Harry Meyer selbst holt sich die Personen nicht ins Atelier. Malt er also keine konkreten Personen? Ich würde sagen, ohne es genau zu wissen: nur selten. Meist sind es wohl Vorstellungen; Gesichter ergreifen Besitz von ihm, wollen dargestellt werden.
Daß Harry Meyer sich überhaupt dieses Thema neben dem der Landschaft gewählt hat, hat eine gewisse Logik. Wie er die Kräfte der Natur in schöpferischer und zerstörerischer Gewalt darstellt, so auch die vergleichbaren innovativen und destruktiven Kräfte im Menschen. Wie die Naturkräfte in seinen letzten »Landschaften« immer explosiver wurden, so drücken sich auch in den in den letzten Jahren entstandenen »Köpfen« mehr und mehr eruptive Energien aus, die die Frage nach der Individualität des einzelnen Kopfes überflüssig macht. Zwar stehen hinter den Köpfen Individuen, doch das eigent­liche Thema ist der Mensch selbst und seine schöpferischen und zerstörerischen Kräfte.

Inkubator

So scheint es auch logisch, daß sich aus dem Thema der Köpfe das des »Inkubators« entwickelt. Da diesem Thema ein eigener Aufsatz im Katalog gewidmet ist, hier nur einige kurze Bemerkungen dazu: Ab 1994 ließ Harry Meyer seine vor Energie und Vitalität sprühenden ­Köpfe aus Einzelbildern in Räume springen. Dort trieben sie und treiben sie noch als »Inkubatoren«, d. h. Brutkästen von Ideen ihr Wesen; Kürzel von Menschen, die sich zusammenballen, zu vermehren scheinen, zu ausgewachsenen Menschen werden können. Hier ist ein neues Thema entstanden, was schon in wunderbaren Bildern Gestalt gewonnen hat, das aber zu neu und zu ungewohnt ist, um es in seiner Gegenständlichkeit zu begreifen.

Zur Malerei

Zum Schluß einige zusammenfassende Bemerkungen zur Malerei. Harry Meyer war von Anfang an ein wilder, rascher Maler, der helle, strahlende Farben mit breiten Pinseln vermalte. Durch die langen, schwungvoll die Bilder durchziehenden Pinselstriche ist seinen Bildern grundsätzlich die Schnelligkeit, ja Heftigkeit anzusehen, mit der sie entstehen. Diese rasche, expressive Malweise bringt es nicht nur mit sich, daß in den 10 Jahren, die der Katalog umfaßt, ein auch zahlenmäßig gewaltiges Oeuvre entstanden ist, sondern auch, daß sich sein Stil in diesen Jahren in erstaunlichem Maße gewandelt hat. Bestimmten bis etwa 1995 breite, aber flächig wirkende Pinselstriche seine Landschaften und Köpfe , so wurde danach die Masse, die Dicke der aufgetragenen Farben immer dominanter. Besonders gut wird diese Veränderung der Malweise an den beiden Bildern »Berge Energie«, Zwiesel, 30. August 1995 und »Land Energie«, 1998 (S. 32, 33) deutlich. Stärker noch als in den Landschaften / Naturbildern, in denen die vehement mit dem Pinsel gezogenen Regen-, Sturm- und Sonnenbahnen meist eine zu stark aufgetragene Farbendichte verhindern, verwendet Harry Meyer diese Malweise in den Köpfen, die häufig mit Farbe plastisch modelliert werden, wie z. B. im »Kopf«, 2000 (S. 67), oder »Kopf«, 1999 (S. 72).
Die überaus rasche Stilentwicklung einerseits und die dick aufgetragene Farbmasse andererseits fordern Erklärungen. Zunächst zum Letzteren. Der plastisch reliefhafte Farbauftrag fügt den Köpfen eine neue Lebendigkeit hinzu: Das Spielen des Lichtes, bzw. unterschiedliche Beleuchtung wirkt auf ihnen ähnlich wie auf einem Relief, teilweise sogar stärker, denn sie bringen immer wieder neue Teile des Gesichts aus den Tiefen hervor, verändern Farben und Ausdruck. Statt eines durch die und in der flächigen Malerei festgelegten Gesichts entstehen so eine Vielzahl unterschiedlicher: Harry Meyers Köpfe gewinnen durch seine Malweise eine Eigenschaft wie das »Bildnis des Dorian Gray« von Oscar Wilde, sich zu verwandeln.
Nun noch zur Stilwandlung. Natürlich ist es letzt­lich der Maler selbst, der seine Malweise ­ändert, doch aus einem anderen Blickwinkel – nämlich dem auf die Bilder – betrachtet, ist es auch die Malerei selbst, die einen Stilwandel vollzieht. Ihre sich ständig steigernde Dynamik, natürlich unter dem Diktat des Malers und seines Eifers, immer neue Momente des Lichts, der Bewegung zu erhaschen und festzuhalten, führt zu dieser Wandlung. Für den Betrachter jedenfalls ist die Begegnung mit den Bildern Harry Meyers stets von neuem ein ungeheures Erlebnis. Drückt sich doch in den strahlenden, häufig ganz reinen, natürlich wirkenden Farben, mitunter in dem noch lange verweilenden Geruch des Öls aus der dichten Farbmasse und den schwunghaft, wie eben erst gezogenen Pinselstrichen die direkte Präsenz des Malers auf der Leinwand aus.