Mein Garten

von Thomas Elsen
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Mit dem Mein Garten betitelten Bilderzyklus stellt der Maler Harry Meyer in der Neuen Galerie im Höhmannhaus eine neue Werkgruppe vor, die seit dem Sommer 2010 entstanden ist. Der Titel ist programmatisch wie prosaisch zugleich. Zum einen kann Meyers Bildergarten als die malerische Manifestation seines künstlerischen Selbstverständnisses gelesen werden, als Ausdruck seiner Beobachtung von und Auseinandersetzung mit der Natur, die für ihn auch immer existenzielle Selbstbespiegelung mit den Mitteln der Kunst bedeutet hat. Insofern taugt sein Bilder-Konvolut durchaus auch als Ausdruck einer komprimierten Zwischenbilanz des bisherigen malerischen Werks. Zum anderen ist der Blick aus den Fenstern seines Ateliers in Wollishausen, in den dahinter liegenden, wilden, alten Garten als Motiv- und Inspirationsquelle unmittelbar erkennbar und atmosphärisch spürbar. Wiese, leicht abfallendes Gelände, alter Baumbestand. Es ist auch und vor allem die eigene, unmittelbare Umgebung, die sich in diesen Bildern lyrisch widerspiegelt, ohne dass man eine topographische Identifikation daran wirklich festmachen könnte.

Eine eigene Gruppe innerhalb des gesamten Zyklus bildet die vierteilige Reihe der Jahreszeiten (Abb. S. 26-31). In charakteristischer Weise zeigt sich darin das große Interesse des Künstlers an Witterungs- wie Sinterungsprozessen, an der Ablagerung und sich verändernden Verdichtung von Massen im weitesten Sinn, an wechselnden Lichteinflüssen, Lichtsituationen und an ihren atmosphärischen Qualitäten, an Wachstum und Degeneration – am Rhythmus der Natur im ganzen Spektrum ihrer Erscheinungsformen. Die Jahreszeiten-Bilder sind, wie für Harry Meyer so typisch, äußerst farbintensive, lichtdurchflutete, mit kraftvoll-expressivem Gestus und pastosem Farbauftrag ausgeführte Naturstudien. Sie zeigen jeweils einen Baum nicht nur während den unterschiedlichen Zeiten des Jahres. Sie zeigen ihn aus unterschiedlichen Perspektiven und Entfernungen, von abweichenden Betrachterstandpunkten und Höhen aus. Man hat den Eindruck, als stünde man selbst auf einer leichten Anhöhe gegenüber und als erstreckte sich zwischen dem eigenen Standort und dem Baum, auf den man fast auf Augenhöhe stehend schaut, ein kleines Tal. Die Nuancen sind fein, doch deutlich vernehmbar. Blattwerk und Geäst sind am oberen Bildrand in leicht abweichender Höhe angeschnitten, in jedem der Bilder ist der Stamm ebenso leicht gekippt zu sehen und ein wenig aus der zentralen Mittelachse gerückt. Sind hier verschiedene Bäume abgebildet oder ist es ein und derselbe, fragt man sich bei längerem Hinsehen. Berücksichtigt man noch Position und Neigung, sowie den Verlauf der hügeligen Landschaft der Bildhintergründe, so könnte hier gar eine spiegelbildliche Situation mit im Spiel sein.

Ein großes Interesse des Künstlers (und ausgebildeten Architekten) Meyer an Fragen der Geometrie ist bei ihm tatsächlich seit frühen Jugendtagen vorhanden. Vor allem dem Problem der Spiegelung als theoretisches wie optisches Phänomen und Objekt der Naturbeobachtung hat er von jeher in besonderem Maß seine Aufmerksamkeit geschenkt. Dass dies, betrachtet man Meyers malerisches Werk bis heute, einen unmittelbaren Widerhall auch in seiner Malerei gefunden hat, würde man zunächst so kaum vermuten. Doch tatsächlich spielen optisch-geometrische Spiegelungsphänomene, die Auseinandersetzung mit Achsen-, Luft- und Ebenenspiegelung eine nicht unwesentliche Rolle in Fragen der Komposition und der Bildauffassung. Und dies sowohl in einem technisch direkten, als auch in einem dialektisch-metaphorischen Sinn. Mit dem Verständnis vom Bild als dem gemalten Gegenüber des Selbst wird dieses immer wieder auch auf seinen Urheber zurückgeworfen: Steht der Maler vor seinem Bild, so schaut er sich selbst – seine eigenen Absichten und Überlegungen – im Spiegel an. Der an der Leinwand agierende Künstler steht zuallererst sich selbst gegenüber, die Bildfläche ist für ihn Reflex und Resonanzkörper des eigenen künstlerischen Tuns und Wollens, sie bildet nicht nur ihren gemalten Gegenstand ab (quasi als Bildresultat), sondern zuvor schon, und auch bis in das Resultat hinein noch spürbar, den geistigen und emotionalen Kreationsvorgang des Malens selbst, die Reibung, den Kampf des Autors mit sich selbst, und schließlich, im idealen Fall, das Einswerden der Bildidee mit ihrem Resultat (den Bildprozess).

Das Diptychon als adäquate Form dieser Denk- und Empfindensbewegung verwendet Harry Meyer bereits seit geraumer Zeit. Das oben skizzierte, zutiefst empfundene dialogische Verhältnis zwischen Maler und Bildträger visualisiert er darin kongenial und fügt ihm eine weitere Ebene hinzu. Indem er das Bild eine immanente Gegenüberstellung seiner selbst vornehmen, es aus sich – beobachtend – quasi in Lauerstellung hinaustreten lässt, um auf der anderen Seite wieder zu sich zu gelangen. Dies gilt auch für das großformatige, das entrée der Galerie überstrahlende Gemälde (Abb. S. 36-37), das gewissermaßen als Auftaktbild des gesamten Zyklus gesehen werden kann, sowie für die breitwandkinoartig angelegte Komposition 1000 Sterne (Abb. S. 20-21), einen poetisch-abstrakten Bildfries, der Sternschnuppen (oder mögen es vielleicht doch Seerosen sein?) in rauschhafter Verdichtung ineinander schmelzt. In beiden Fällen dient die Zweiteilung weder historischer Anleihe noch ästhetisch motiviertem Effekt, sondern einzig dem, was Meyer eigentlich interessiert: Die unsichtbaren Wege der Transformation und natürlicher Übergange sichtbar zu machen, dem Hervormalen des Bildes hinter dem Bild.

Natürlich sind die Diptychen Harry Meyers keine Spiegelbilder im engen Sinne des Wortes. Und malend hat er gewiss nie ein geometrisches System im Kopf. Wohl aber die Idee von einem System und eine latente Erinnerung daran. Eine Idee, die sich vom Korsett gesetzmäßiger Reglementierung etabliert hat, und zu einer freien, künstlerischen Geometrie als Ableitung beobachteter Natur geworden ist. Als ein intuitiver Impuls und Bildgedanke, der sich in den Malprozess überträgt und sich ihm einschreibt, um seinen Verlauf ebenso subtil wie selbstverständlich mitzuprägen.

Naturlandschaften – auch dies ist ein Moment, welches in den Bildern des Mein Garten-Zyklus erneut und fulminant seine Bestätigung findet – sind in Harry Meyers Bildern immer auch intensivste Farblandschaften und umgekehrt. Seine pastose Malerei lässt das Gemälde bisweilen zum regelrecht bewegten Farbrelief werden, zur Verwendung der Farbe als nicht nur illuminierendem (Hilfs) und Transportmittel, sondern als ein seine eigene Materialität selbstbewusst demonstrierender Naturstoff. Das zeigt sich in einigen Bildbereichen ganz wörtlich, in denen sich die Farbmasse so dicht wie das zusammen gewrungene Nass schwerer Tücher über die Oberfläche der Leinwand erhebt. Es zeigt sich in dem Bild Wipfel (Abb. S. 4-5), dessen Ansicht malerisch so nah heran ‚gezoomt’ wurde, dass statt des dicht vor Augen stehenden Ausschnitts einer Baumkrone eher ein netzartiges, lineares Strukturengeflecht erscheint. Es zeigt sich in den überraschenden Tondi Ferne (Abb. S. 18), Mond (Abb. S. 32) und Sonne (Abb. S. 33), deren Abstraktionsgrad und formale Anlage die Farbe als Materie noch mehr in den Mittelpunkt zu rücken, ja sie selbst zu porträtieren scheint. Und es zeigt sich in Arbeiten wie der schon 2007-2008 entstandenen Farbskulptur Selbst (Abb. S. 38-40), einem farb­strotzenden Kopf, der fast mit bloßen Händen mehr plastisch modelliert, als mit genuin malerischen Mitteln geschaffen worden zu sein scheint. Selbst ist ein hochgradig verdichtetes Selbstporträt des Malers – die Farbe im Kopf, und mit ihr im künstlerischen Prozess verschmolzen.

„Wenn ich Natur male, dann male ich auch Natur­gesetze“, sagt Harry Meyer, „Zusammenhänge, die sowohl den physischen als auch den geistigen Raum bezeichnen, den Raum, in dem ich mich befinde, in dem wir uns befinden“. Mein Garten ist dieser Raum, der geistige Ideenraum des Malers, den zu betreten dem Betrachter in den Räumen der Galerie ganz physisch möglich ist. Umgeben von der farblichen Kraft und Dichte gemalter Natur kann man sich dem Eindruck kaum entziehen, nicht bloß von außen auf das einzelne Bild zu blicken, sondern sich im Inneren der von ihm hervorgebrachten Ideenwelt zu bewegen. Die Barriere zwischen dem Draußen und dem Drinnen scheint in der Bildbetrachtung aufgehoben.