Harry Meyer: Die oberschwäbische Landschaft

von Bernd Mayer

Harry Meyer als Landschaftsmaler zu bezeichnen, wird seiner Vielseitigkeit sicher nicht gerecht. Trotzdem wird er sich vermutlich gegen diese Klassifizierung kaum wehren, bilden doch gerade Landschaften einen Schwerpunkt seines künstlerischen Schaffens. „Landschaft“ ist ein weiter Begriff. Man findet sie, wenn man so will, überall. Doch gehen wir weg vom Allgemeinen und betrachten das Besondere. Nämlich einen Landstrich, von dem Harry Meyer, nachdem er ihn entdeckt und sich ihm in stunden-, tage- und wochenlangen Streifzügen genähert hatte, in Bann gezogen wurde: Oberschwaben. „Oberschwaben“, so heißt es in der Gegend zwischen Donau und Bodensee, „ist dem Himmel ganz nah“. Das ist metaphysisch gemeint, beschreibt aber ganz profan auch eine Landschaft, über deren Weiträumigkeit sich der Himmel an heiteren Tagen hoch wölbt. Sanft streichen die Wolken an solchen Tagen über die Felder, Wiesen, Wälder, Moore und Auen und zeichnen mit ihren Schatten die vielgestaltige Moränenlandschaft – Überbleibsel der letzten Eiszeit. Straßen und Wege schmiegen sich Hügeln und Tälern an und bilden ein weitmaschiges Netz. Mäandrierende Bäche, tief in Täler eingeschnittene Wasserläufe und dazwischenliegende dunkle Wälder geben dieser Landschaft ihr Gepräge. Eiszeitliche Gletscher haben mit ihrem Geröll sanfte Hügel modelliert und mit ihren Schmelzwassern breite Talsohlen zwischen Moränenhügeln und Schotterfluren ausgeschwemmt. Der weite Blick übers Land wäre fast grenzenlos, würde ihm nicht an Föhntagen das Alpenpanorama Einhalt gebieten. Die Schönheit dieses Landstrichs ist still, sie kokettiert nicht und wirkt in keiner Weise anbiedernd. Diese Landschaft, mit den darin eingebetteten geschichtsträchtigen Städten, den pittoresken Dörfern und altehrwürdigen Schlössern und Burgen, bot im 19. Jahrhundert zahlreichen Malern und Zeichnern, die die Enge ihrer Ateliers verließen, eine schier unendliche Fülle von Motiven und Anregungen.

Diese Tradition lebt in den Arbeiten Harry Meyers fort. Auch er verlässt sein Atelier, belädt sein Auto mit Farben, Pinseln und Leinwänden und fährt in die Landschaft. Doch ist dieses Fahren zunächst kein gezieltes Bewegen auf einen Ort hin. Er durchfährt diese sich ständig verändernde Endmoränenlandschaft und nimmt die wechselnden Eindrücke in sich auf. Das Fahren im Auto über die kleinen Straßen ist für ihn ein Akt der Konzentration. Immer wieder sucht er dieselben Plätze auf, kreist den Ausschnitt, der später auf die Leinwand gebannt wird, gewissermaßen ein. Sobald er einen Platz gut kennt und ihn in sich aufgenommen hat, trägt er ihn in sich.

Den Malgrund seiner Leinwände bereitet er mit derselben Sorgfalt, mit der er sich seinem ausgesuchten Landschaftsausschnitt nähert, in einem mehrstufigen Prozess in geradezu altmeisterlicher Manier vor. Zunächst streicht er sie mit Knochenleim ein – „altmodisch“, wie er sagt –, dann kommen verschiedene Schichten drauf: Kreidegrund, darüber eine dünne Leimung, dann wieder eine Schicht Kreidegrund und schließlich ein ölhaltiger Grund.

In der ersten Phase des Malprozesses zeichnet er in der Natur auf der Leinwand mit schwarzer Kohle das Landschaftsmotiv vor. Mit kräftigen, flott auf den Untergrund gesetzten Strichen skizziert er den gewählten Landschaftsausschnitt. Er versucht, in dieser Skizze die Struktur des Raumes, in dem er sich befindet, zu erfassen. Ihm geht es nicht um die Farb- und Lichtstimmung, sie interessieren ihn zunächst nicht. Das so entstandene, relativ abstrakte Bild ist von hohem grafischem Reiz, doch ist ihm kein langer Bestand beschieden, denn bald wird es unter der Ölfarbe verschwinden. Über die Kohlezeichnung schichtet Harry Meyer seine Farbberge. Schicht für Schicht modelliert er seine Landschaften. Der Farbauftrag geschieht in mehreren Schritten. Immer wieder legt er Ruhephasen ein, damit das Öl vom Untergrund aufgesaugt werden kann. Die dominierende Farbe ist Grün in seinen vielfältigen Schattierungen. Mächtig aufgeworfene Hügel ragen den schmalen Himmelszonen entgegen. Energisch schieben sich helle Farbströme zwischen die Erhebungen und erschließen den Bildraum in die Tiefe. Hie und da setzen gelbe, rote und orange Lichter einen farbigen Akzent. Eines fällt auf. Die Landschaften sind menschenleer, jede Spur von Besiedelung fehlt. Zeugnisse technischen Fortschritts, wie Stromleitungen, Bahngleise und Straßen, sind ausgeblendet. Meyers Gemälde gewinnen so einen Zug von Überzeitlichkeit. Und doch leben die Bilder: Das bunte Nebeneinander von apfelbaumbestandenen Wiesen, Waldinseln und Berghängen, die durch das Schattenspiel der Wolken und den Einfall des Lichts rot aufscheinen, kommt in seinem Empfindungswert der realen Situation sehr nahe. Es ist deutlich zu spüren, dass sich der Künstler intensiv mit dieser Landschaft auseinander gesetzt und in einem langsamen Annäherungsprozess ihren Charakter erfasst hat. Zu Recht darf man Harry Meyer damit als einen der aktuell wichtigsten Chronisten der oberschwäbischen Landschaft bezeichnen.

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