Das Wüten der Elemente
Die „Hiberna“-Gemälde von Harry Meyer

von Rüdiger Heinze

Seinem großen Thema der Naturmalerei, das Regenbilder, Bergpanoramen, Baumansichten und die dunklen „Foris“-Landschaftsgemälde aus den Jahren 2001 bis 2006 umfasst, hat Harry Meyer seit 2007 ein weiteres Kapitel hinzugefügt: eine Werk-Reihe unter dem Titel „Hiberna“ – angewachsen auf 60 Visionen bis Mitte 2009.

Wie in seinen „Foris“-Arbeiten („Foris“ = Draußen, Außenwelt) legt Meyer auch in „Hiberna“ ( = „das Kalte“, „das Winterliche“) eine Weltsicht dar, „für die es der Phantasie bedarf und des Hand-Werks, um ungesehene Dinge zu finden, die sich im Schatten der natürlichen verbergen, um sie mit der Hand zu befestigen, damit das zur Anschauung gebracht wird, was nicht ist“ – so das nicht überholte Kunstverständnis von Cennio Cennini, dieses um 1370 bei Siena geborenen Malers und Lehrmeisters.

Abgesehen davon, dass in dieser Definition früh schon die Epoche des Manierismus vorgedacht wurde – phantasiegezeugtes Ideal anhand von geübtem, fertigem Handwerk –, umkreisen Cenninis Worte von den ungesehenen Dingen und von der Anschauung dessen, was nicht augenfällig ist, ein Hauptmotiv der Kunst Harry Meyers. Denn in seinen Landschaftsbildern malt er auch außerhalb der Malerei Liegendes. Er malt Immaterielles, Unsichtbares, Akustisches, Abstraktes in Spannung: Wind und Luft, Naturrauschen und Donner, physikalische Auf- und Entladungen, Hitze und Kälte, die Kräfte der Tektonik, der natürlichen Elektrizität, der Gravitation und Adhäsion. So basiert seine Bildwirklichkeit auf einem naturwissenschaftlichen Zugang, und um dies immer triftiger zu fassen, intensiviert sich Meyers Handwerk und Hand–schrift. „Meine Theorie ist es, ein Bild immer wieder neu zu malen und immer wieder ein bisschen besser, so dass eine langsame Steigerung eintritt.“

Die „Hiberna“-Gemälde haben sich aus den „Foris“-Gemälden heraus entwickelt; ja, es existieren einige wenige Malereien beider Werkgruppen, die genau so gut dem jeweilig anderen Zyklus zugeschlagen werden können: Das dunkle „Hiberna“ (1) ist vorstellbar auch als Teil der „Foris“-Serie, wie einige „Schnee“-Exemplare aus „Foris“ sich ohne weiteres in die „Hiberna“-Folge einreihen ließen. In beiden Werkgruppen beschränkt sich Meyer – denkbar einfach in der Anlage und gerade deshalb heikel und diffizil in der Ausführung – auf die drei wesentlichen Protagonisten der Landschaftsmalerei: Erde, (hochgezogener) Horizont, Himmel. Dort wie hier bedient er sich der Darstellung der vier Elemente sowie ihrer Aggregatzustände – und zwar unter Auslassung des Organischen (Pflanze/Tier/Mensch) und unter Auslassung aller Kulturerrungenschaften. Und dort wie hier blickt Meyer in der Hauptsache aus der Vogelperspektive über arbeitendes, aufgewühltes, keinesfalls idyllisches Land in die suggestive Tiefe des Raums – auf diese Weise phantasiegezeugte Panoramen jenseits erkennbarer Topo-graphie schaffend: Im Ausschnitt einer richtungslosen Welt-Totalität malt er bildwürdig jene Größe, jene Ursprünglichkeit, jene Macht und Gewalt von Schöpfungs- und Zerstörungskraft, wie sie in Form unberührter, natürlicher Landschaft erst im 19. Jahrhundert Eingang in die Kunstgeschichte fand.

Dennoch, trotz aller Vergleichbarkeit der Grundanlage und der zentralen Aussage, erschloss sich Meyer mit seinen „Hiberna“-Gemälden in mehrerlei Hinsicht eine fortentwickelte Landschaftssicht: Während die dunklere „Foris“-Gruppe in ihrer Konzentration auf Erd- und Blautöne bereits gefestigte Landschaftsformen erahnen lässt, weil mineralische Bodenkruste zu erstarren scheint, zeigt die „Hiberna“-Reihe Wetterleuchten und Schlaglichter auf anhaltend-eruptive physikalische Prozesse: das Wüten der Elemente. Gewissermaßen im Augenblick des Schauens füllen sich Gräben, Spalten und Ritzen durch eine Malerei, die andernorts gleichsam neue Löcher, neue Krater aufreißt. Nicht mehr die latent-dräuende „Foris“-Dramatik liegt über diesen Bildern, sondern eine sprengende Energie des Moments, ein Kräftemessen bei kurzer „Belichtungszeit“. Weniger zählen Zustand, Stimmung, Atmosphäre, vielmehr die schroffe Erscheinung von akuten Schub- und Stoßströmen. Was in der „Foris“-Werkgruppe verdeckt, unter der Haut, in der Tiefe arbeitet, bricht sich hier nun offen Bahn. Immer wieder stürzen und schießen Materie und Farben über die Leinwand – in Form von Schneewasser (2), bleckenden Flammen zwischen Gefrorenem (3), Geröllschichten (4), Lawinen (5). In seinen „Winter“-Gemälden gelingt Harry Meyer die Kunst, sorgfältig das sich unablässig Wandelnde zur Ansicht einzufrieren. Wie viel Kunst, wie viele Bilder zeigen unberührte Natur? Dem, was in der Realität abnimmt, widmet sich Meyer.

Knapp 450 Jahre nach den Monatsbildern von Pieter Bruegel dem Älteren (Kunsthistorisches Museum Wien), auf denen wohl erstmals die Jahreszeiten und damit auch der Winter zum zentralen Thema abendländisch-künstlerischer Auseinandersetzung herangezogen wurden, treibt Meyer Schneeschlamm und Eiskeile weit und diagonal über die Leinwand voran. Der Horizont schwankt; inmitten eines Naturereignisses scheinen Schwerkraft, Staffelei und Maler aus dem Lot. Die Schlacht der Materie transformiert Meyer in eine Schlacht der Malmittel einerseits und in eine Schlacht der Farbwerte andererseits. Dem Aufwerfen fester und flüssiger Stoffe entspricht das Nass-in-Nass-Malen, auch das Türmen, Modellieren, ja „Kneten“ seiner Ölfarben, die Nasen bilden und Abgründe und Überhänge und Unterspülungen. Immer gewichtiger werden Meyers Bilder, und geschlossenen Auges könnte man sie – in Kenntnis ihres Inhalts – richtig aufhängen: Erdenschwere unten, Himmelsleichtigkeit oben. So nehmen Plastizität und mimetische Darstellung von Stofflichkeit bis hin zum „Materialbild“ zu – nicht aber die mimetische Natur-Darstellung durch Farbe. Denn Meyer, der schon immer starke „Falschfarben“ seinen Illusionsfarben zur Seite stellte, reizt nun neue, kühne Töne seiner Palette aus – mitunter toxisch, mitunter als „cluster“: Apricot, Türkis, Aubergine, Rosa, in Spuren sogar synthetisch-grelles Rot, Gelb, Blau. Gleichzeitig verstärkt er seinen Einsatz von Weiß als reinen und als abmischenden Ton. Damit kommen durch Reflexionen zunehmend Licht und Kontrast in seine Malerei, die – wie von innen erhellt – verstärkt kündet von Aufbau, Stuktur, Pinselduktus, spontaner und kontrollierter Mal-Emotion. Durchgestaltet, geschärft und ausbalanciert werden die Wucht und die Finesse, das Furiose und das Differenzierte. Und ins Bild gefasst wird nicht selten die Demarkationslinie zwischen Abstraktion und der Gegenständlichkeit dieser expressiven Farblandschaften. Betrachte man nur die beiden kleinformatigen Arbeiten (6/7)! Weniger als vage ist hier die Horizontlinie auszumachen. Zu stark kippt das Blickfeld aus der Horizontalen; zu stark überlappen und durchdringen sich ein mögliches „Oben“ und „Unten“; zu ausgeglichen im Reflexionsgrad des Lichts zeigen sich Himmel und Erde. Das „Kalte“ und „Winterliche“ aus dem Titel der Werkreihe kann sich – gegenständlich gesehen – im Grunde nur auf einen Flecken handgreiflichen Erdbodens als ein zur Abbildung reizendes „motif trouvé“ beziehen – wobei im ersten Fall ein Schneekeil von rechts oben in das Gemälde dringen würde, im zweiten Fall Grundfarben-Schlieren wirkten wie die Nahsicht auf ein Schwemmland-Detail. In Wahrheit jedoch schiebt sich die so abstrahierte wie haptische Materialität, dazu der energetische Eigenwert der Töne und der Farben vor jeglichen eindeutigen Charakter des Abbildhaften. Emil Nolde: „Je mehr man sich von der Natur entfernen kann und doch natürlich bleibt, um so größer ist die Kunst.“

 Weil pastose Landschaftsmalerei – ebenso wie Bekenntniskunst – als „überholt“ erklärt worden ist, hat Harry Meyer mit „Hiberna“ sein Buch der Naturdarstellung als ein Eigensinniger fortgeschrieben. Sich Unabhängigkeit nehmend, schiebt er manche Pflicht, manches Recht der zeitgenössischen Kunst beiseite und liefert gegen den Strom nicht „Aktuelles“, sondern so etwas Unzeitgemäßes wie Beiträge zu Landraum und Erdgeschichte. Und seine nächste Expedition zu einer „terra incognita“ kündigt sich bereits an. Hochdruck beruhigt sich wieder, Dramatik weicht gleichmäßiger Meditationsfläche – wie sie etwa einem leicht bewegten Wasserspiegel entspricht: Expressives wandelt sich in Impressives. So entsteht noch knapp 500 Jahre nach Albrecht Altdorfers „Donaulandschaft“ (Alte Pinakothek München), die die heute früheste nachweisbare abendländische Darstellung eines topographischen Porträts in Reinform zeigt, eine Landschaftsmalerei, wie man sie bislang nicht gesehen hat. In der Verschmelzung einer bis zu sechs Farben gleichzeitig modellierenden Maltechnik mit einem kraftvoll-visionären Vorstellungsvermögen hat Harry Meyer zumal in seinen „Hiberna“-Gemälden eine Weltsicht entworfen, die das Auge – zwischen Anziehung, Achtung und Scheu – zu einem tastenden und ergründenden Sinnesorgan macht. Dass hinter diesem Werk ein Mensch steht, der immer wieder auch auf andere hervor-ragend-konkurrierende Künstler verweist und diesen hilft, dem überdies der Begriff „Gemälde“ in Bezug auf seine Arbeiten viel besser gefällt als das Wort „Bild“, dem schließlich der private Kunstgenuss als nicht obsolet erscheint, macht eben dieses Werk nicht weniger bedeutungsvoll. Es ist erhellend, mit Harry Meyers Malerei in den Dialog zu treten und ihr zuzuhören. So erfährt der Betrachter manches. Doch will er dies in Sätzen fixieren, werden die Worte erst nicht reichen und die vorhandenen sich dann überholen. Nicht seine Beschreibung, das Gemälde selbst bleibt wesentlich.

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